Chinas zweite Kulturrevolution

Der Kalte Krieg ist seit 13 Jahren vorbei, trotzdem wirkt es noch ein wenig befremdlich, wenn ein hochrangiger kommunistischer Funktionär im blauen Oberhemd eines Marketingprofis in der Mittagspause Ernähungs-Tipps gibt.

Shanghai, China – Jian Daning, Direktor der Freihandelszone Shanghai Waigaogiao der Volksrepublik China, verzichtete auf den Fisch und blieb lieber beim Joghurt-Drink – der schlanken Linie wegen. China ist nicht mehr das, was es einst war.

Schnell wachsende Industriestrukturen und eine ehrgeizige Bevölkerung, gepaart mit staatlichen und privatwirtschaftlichen Bestrebungen, ausländische Investoren ins Land zu locken – all diese Faktoren verwandeln China rasend schnell in die kommende wirtschaftliche Supermacht.

In Shanghai sind die Anzeichen dafür allgegenwärtig: Wolkenkratzer neben baufälligen Wohnblöcken, mehrstöckige Einkaufszentren, die von bummelnden Käufern bevölkert werden, mit japanischen und vereinzelt auch mit amerikanischen Autos verstopfte Straßen und einer der saubersten und effizientesten Flugplätze der Welt. Die Autofahrer halten sogar an roten Ampeln – meistens jedenfalls. Wo man auch hinschaut, man begegnet immer derselben Botschaft: Dieses Jahrhundert gehört uns!

Vor 15 Jahren „wurde man schon als reich betrachtet, wenn man einen elektrischen Ventilator besaß“, so Xiao Yin Shao, stellvertretender Generaldirektor des Test- und Montagezentrums von Intel in Shanghais Bezirk Pudong.

Shanghai expandiert unaufhörlich. Früher war die Region Pudong im Westen von Shanghai Agrarland, wo niemand leben wollte. Heute kosten dort 100 Quadratmeter Wohnfläche 500.000 Yuan (61.000 US-Dollar). In der Freihandelszone Waigaogiao, einem riesigen Industriepark im Zentrum von Pudong für die Fertigung von Exportprodukten, sind Unternehmen wie IBM, Hewlett-Packard, Nortel und Intel sowie weitere 5.296 multinationale Unternehmen ansässig. Im letzten Jahr betrug der Wert der exportierten Waren aus Waigaogiao 10 Milliarden US-Dollar.

„1986 gab es nur ein Hotel, in dem Ausländer übernachten konnten“, berichtet Vincent Lo, Vorsitzender des Shanghai-Hongkong-Komitees für die Förderung und Entwicklung der „Yangtze“ – einer gemeinnützigen Vereinigung mit dem Ziel, Investoren für Westchina zu interessieren. Einmal war die Hotelreservierung von Lo verloren gegangen, so dass er sich das Zimmer mit einem Fremden teilen musste. Heute kann man eine Stunde lang von Ost nach West durch Shanghai fahren, ohne dabei das Labyrinth aus riesigen Bürokomplexen und Luxushotels zu verlassen.

Seltsamerweise scheint diese Entwicklung teilweise auf das Konto der Regierung zu gehen. Die 1979 von Deng Xiaoping initiierten Marktreformen reduzierten den Einfluss der Regierung auf die Wirtschaft. Statt Planziele vorzugeben, versucht die Regierung nun vielmehr, mit Steuererlassen und anderen Anreizen den Fortschritt durch private Projekte zu fördern.

Auch die Parteikader haben sich gewandelt. Die Partei sucht ihre Funktionäre jetzt schwerpunktmäßig an Hochschulen. Parteimitglieder werden jährlichen Überprüfungen unterzogen und primär nach dem Erreichen von Produktionszielen beurteilt – einem Insidern zufolge von großen Wirtschaftsunternehmen übernommenen Prinzip.

Dennoch scheint der wichtigste Auslöser für diese Umwälzungen die Bevölkerung selbst zu sein. Shanghai ist ständig in Bewegung, und es gibt kaum einen freien Quadratmeter, auf dem nicht irgendetwas verkauft wird. Die Menschen arbeiten zwar acht Stunden pro Tag, fünf Tage die Woche, doch danach gehen sie zu Hause auch noch ihren eigenen Geschäften nach. Die Luft ist einfach voller Energie.

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